Kunstwelt
Die Schrötermadonna zu Hallgarten
Das auf einem zum Taunus ansteigenden Plateau über dem Rheintal gelegene Weindorf Hallgarten bewahrt in seiner stattlichen, sich als Konglomerat von Baustilen des 13. bis 19. Jahrhunderts darstellenden Kirche, eines der bedeutendsten Werke plastischer Kunst der Spätgotik. Dieser Stellenwert beruht sowohl auf dem unverkennbar hohen künstlerischen Qualitätsniveau hinsichtlich Konstruktion und Komposition, der um 1417 entstandenen Madonnenskulptur, als auch auf ihrem außergewöhnlichen Herstellungsmaterial: gebrannter Ton. Der namentlich unbekannt gebliebene Schöpfer der zarten Marienfigur in Hallgarten und weiterer Werke orientierte sich mit seinem Atelier offensichtlich an der überragenden Kunstentfaltung an den europäischen Höfen in Paris und Prag. Nur davon abgeleitet kann das an der Hallgartener Madonna zu beobachtende Streben nach Verfeinerung der Einzelformen und gesteigerter Ästhetisierung des Ausdrucks, mit erstaunlicher Innovationsfreude einhergehend, erklärt werden. Diesem künstlerischen Anspruch des Hallgartener Meisters und seinem zeittypischen Schönheitsideal, konnte anstelle vom üblichen Werkstoff Holz und Stein wohl nur der leichter und eleganter formbare Ton, gerecht werden. Ein gewichtiger wie rationeller Nebeneffekt der figürlichen Tonbildnerei am Mittelrhein, war die sich durch das Material zusätzlich eröffnende Attraktivität mit Abformungen (Modeln) von Skulpturen zeitsparend und formidentisch (seriell) zu produzieren. Das berühmteste Beispiel hierfür ist eine Madonna aus dem Hallgarten benachbarten Kloster Eberbach im Louvre zu Paris. Sie ist nahezu identisch mit der Hallgartener Statue. Für beide galt bisher, dass sie einem gemeinsamen Model von einer verlorenen "Mutterfigur" entstammen. Jüngste technologische Untersuchungen der Hallgartener Madonna ergaben jedoch sensationell, dass sie das in Hohltechnik frei aufmodellierte Original und die Eberbacher Madonna eine Abformung der bereits gebrannten Hallgartener Skulptur ist. Die mit einer neuzeitlichen Farbfassung versehene Hallgartener Muttergottes steht in schwungvoller, typisch spätgotischer S-Kurvatur auf einer nach unten gekehrten Mondsichel, in die ein stilisiertes männliches Gesicht auffällig eingeschrieben ist.
Bereits hier wird ikonografisch die Sinngebung der Mariendarstellung erkennbar, die mit der filigranen Krone auf ihrem Haupt und einem ursprünglich in ihrer Rechten zu vermutendem Zepter ihren Höhepunkt findet: Maria als Himmelskönigin, theologisch bezogen auf eine Passage der Apokalypse des Evangelisten Johannes, der in seiner Vision eine himmlische Frau mit der Sonne bekleidet, den Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt einen Kranz von 12 Sternen schildert. Das bei zahlreichen Madonnen des Spätmittelalters auftretende Mondgesicht ist vermutlich eine Anspielung auf den Stammvater Adam, dem Christus im Jesuskind als der apostrophierte "neue Adam" gegenübergestellt wird. Die teilweise wohl schon recht früh erfolgte Umformung der Attribute von Mutter und Kind, hin zu einem Weinkrug in ihrer Rechten und einer Traube in der rechten Hand des Jesusknaben, ist zunächst einer lokal überlieferten Legende geschuldet.
Sie berichtet von einem unfallgeschädigten Weinschröter, dem ein zerbrochenes Weinfass durch die Anrufung und folgende Erscheinung Mariens wieder zusammengefügt und von ihr mit einem Krug auch wieder befüllt wurde. Im Hinblick auf den dieses Weinwunder markant symbolisierenden Topf (volkstümlich Scherbe genannt) entstand die weit verbreitete Benennung "Madonna mit der Scherbe". Eine tiefer gehende Betrachtungsweise der (ergänzten) Attribute von Mutter und Kind lässt jedoch die Absicht erkennen, mit Gefäß und Traube (Kelch und Wein) einen Abendmahlsbezug herzustellen. Und eine weitere Namensgebung der Skulptur, vor Ort die gebräuchlichste, kündet von einstiger Funktion als verehrtes Bildnis der Zunftpatronin der Weinschröter: Maria, die Schrötermuttergottes.
Dr. Wolfgang Riedel